Von der Kunst, den anderen so zu lassen, wie er ist

Das mache ich wirklich ziemlich selten: einen Kommentar in eine Diskussion auf Facebook schreiben und mich einmischen. Aber dieses eine Mal hat es mich so sehr gejuckt, dass ich es einfach tun musste…und 21 Leute fanden das offenbar gut. 🙂 Es ging um eine einfache, technische Triathlon-Frage, und trotzdem waren nur wenige in der Lage, eine direkte Antwort zu geben. Statt dessen: sehr persönliche Bewertungen. Dieser Blog deckt auf, wie solche Reaktionen entstehen und gibt eine kleine Anleitung für mehr Gelassenheit: Viel Spaß beim Lesen und schreibt mir gerne Eure persönlichen Erfahrungen zu dem Thema!

Und worum ging es eigentlich?

Eine Triathletin schreibt am 26.6. folgenden Text in der «Triathleten in Deutschland» Gruppe auf Facebook:

«Guten Morgen. Bin die schlechteste Schwimmerin der Welt. Starte in Roth und da ist das Wasser heute schon 24,4 grad. Abkühlung nicht in Sicht. Ich befürchte dass mein lebensrettender neo verboten sein wird. Und wollte mir noch eine swinskin zulegen. Zeit ist knapp. Lieferung , testen etc. Welche empfehlt ihr ? Womit hat man maximal Auftrieb ? Lieben dank.»

Facebook, 26.06.2019, 10:02Uhr, Gruppe: «Triathleten in Deutschland, Melanie Kirscher

Was nun folgt, ist ein gutes Beispiel für den leider so häufig zu beobachtenden Umgang miteinander in solchen Gruppen: es stimmt, sehr viele versuchen, aufzumuntern und versichern, dass es noch nie ein Neo-Verbot in Roth für Altersklassenathleten gegeben hätte. Aber sehr viele fühlen sich aufgefordert und bemüssigt, eine persönliche Meinung zu den Schwimmfähigkeiten dieser Athletin abzugeben, ja, da wird sogar Faris Al-Sultan bemüht:

die meisten Triathleten schwimmen am liebsten im Neo
Die meisten Triathleten schwimmen lieber im Neo.

«Wie sagte Faris so schön…wer 3,8 km nicht in Badebutze/Badeanzug schwimmen kann hat da nix zu suchen. Nehmt nur andern Startern, die keine Angst vor Neoverbot haben, die Plätze weg…Dann erstmal OD ohne Neo machen und steigern statt so ist meine Meinung.»

oder:

«Wer 3,8km nicht ohne Neo schwimmen kann, sollte erst gar nicht starten.»

Kommunikation im Netz

Das hat mich sehr gestört, weil hier einfach nicht auf das geantwortet wird, was eigentlich die Frage war. In dem Ursprungspost wurde gar nicht nach einer Bewertung der Schwimmleistung gefragt, sondern nach einem Tip für einen swim suit….

Viele sind sehr aktiv in den sozialen Medien unterwegs..nur leider nicht sozial.

Ich habe diesen Thread – übrigens: 135 Kommentare! – nicht ausgewählt, um mal wieder über den Verfall des Anstandes im Netz zu klagen. Wir sind alle freiwillig dort. Aber ich habe ihn deswegen ausgewählt, weil er etwas zeigt, was von großer Relevanz in unserer zwischenmenschlichen Kommunikation ist.

Jeder Mensch lebt in seiner eigenen, kleinen, persönlichen Wirklichkeit, nennen wir es Kosmos. Dieser Kosmos besteht aus unseren Fähigkeiten, Vorstellungen, Idealen, Werten, Erfahrungen und Erwartungen…und unterscheidet sich naturgemäß gewaltig von dem unserer Mitmenschen.

In dem hochinteressanten und absolut lesenswerten Buch von Daniel Kahnemann «Schnelles Denken – langsames Denken» kann man nachlesen, dass wir, bzw. unsere Köpfe eher fauler Natur sind. Natürlich faul nicht im Sinn von «Nichtstun», aber im Sinn von: «den leichtesten Weg gehen». Und das hat einen guten Grund.

Schnelles Denken, langsames Denken

50% unserer täglichen Energie verbraucht unser Gehirn für alle seine Denkprozesse – es ist also durchaus schlau, zu versuchen, energiesparsam vorzugehen. In der Praxis bedeutet dies, dass nicht jedes Mal das Langsame Denken angeschaltet wird, sondern viele unserer Reaktionen vom Schnellen Denken gesteuert werden.

Wie macht unser Kopf das? Indem es die Informationen, die es von außen bekommt, blitzschnell bewertet und in unsere persönliche Gedankenwelt einbaut. Man nennt dies etwas sperrig: Repräsentativsheuristik – haben wir aus früheren Erfahrungen bereits bestimmte Stereotypen gespeichert, reagieren wir gemäß ihnen und denken nicht lange nach.

Schnelles Denken liefert schnelle Antworten.

Nehmen wir uns das Beispiel von oben: der Kommentator hat vermutlich diese Vorstellung von «Triathlon: nur die Harten kommen in den Garten» – und liest deshalb auch nur die für ihn relevanten Informationen: schlechteste Schwimmerin/lebensrettender Neo. Alles andere wird ausgeblendet. Was folgt, ist eine schnelle -und unüberlegte- Reaktion. Nun kann er sich zurücklehnen, fühlt sich vielleicht zusätzlich durch weitere Kommentare bestätigt und hat Energie gespart. Mehr zum Thema «Gefühle im Sport» findet ihr im dazugehörigen Blog!


Eine schnelle Reaktion ist nicht immer eine gute Reaktion

Ihr alle, meine geschätzten Leser*Innen, gehört mit Sicherheit nicht zu denen, die solche Kommentare abgeben, aber vielleicht kommt ihr trotzdem mal in eine Situation, wo euch blitzschnell eine bestimmte Deutungsmöglichkeit einer Situation in den Sinn kommt, diese jedoch nicht zielführend ist.

Eine kleine Anleitung für mehr Gelassenheit:

  • genau lesen, genau zuhören
  • durchatmen
  • bis 10 zählen,
  • dabei versuchen, zu verstehen (und ja, das ist Denkarbeit, die extra Energie braucht!)
  • dann erst antworten
  • Ein extra Tip: manchmal hilft es, das Gehörte einfach in den gleichen Worten zu wiederholen. Das stärkt das eigene Verständnis und gibt dem Gesprächspartner die Gelegenheit, sich zu korrigieren.

Im Coaching

Diesen Ansatz verfolge ich in meinen Coachings ebenso. Ich kann euch verraten, auch ich merke immer wieder, wie blitzschnell eine Lösung, eine Bewertung in mir aufploppt, mir eine schnelle, leichte Lösung angeboten wird, wenn mein Gegenüber etwas erzählt. ABER: das wäre ja dann meine Lösung, nicht eure. Aller Wahrscheinlichkeit nach zwei völlig verschiedene Welten. Also, zuhören und weiter fragen….!

In diesem Sinn, alles Liebe!
Eure Eva

im Gespräch mit den Teilnehmern des Praxiscaochings «cool bleiben im Freiwasser» am Langener Waldsee, Juni 2019

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